Russland

km 9581 Listwjanka & Traum(a)-Trekking am Baikalsee

listvyanka_-_bolshie_kotyWir sind froh, den Grossteil unseres Gepäcks für die 4-5 Tage, die wir am Baikalsee bleiben möchten, im Hotel in Irkutsk lassen zu können. Denn nun sind wir mit abgespeckter Last unterwegs. Mit nur unseren Rucksäcken (puh!!) machen wir uns – nach erneutem Shopping auf dem Gemüsemarkt – mit dem Minibus in das ca. 70km entfernte Listwjanka auf. Die Fahrt ist von einigen riskanten Überholmanövern und schlechten Strassen geprägt, aber wir kommen nach ca. 1.5h dennoch heil in dem kleinen Dörfchen am Baikalsee an. Wir bleiben noch eine Nacht in einer netten kleinen Holzhauspension, um am nächsten Tag halbwegs ausgeschlafen auf unsere erste, ca. 17km lange Etappe von Listwjanka nach Bolschie Koty aufzumachen.


Das Wetter ist wie fast immer bisher wunderbar sonnig bei ca. 28° und wir beschliessen, uns mal in den Baikalsee zu werfen. Jasmin macht den Anfang und stürzt sich kopfüber in die Fluten. Es ist soooooooo kalt, dass sie nichtmal kreischen kann… So kaltes Wasser erwartet man vielleicht im tiefstem Winter beim Eistauchen – und das ist wirklich nicht übertrieben. Das Wasser hat vielleicht 6-8° und das lädt nicht gerade zum längeren schwimmen ein. Aber der See ist schon beeindruckend, man hat eher das Gefühl, man ist am Meer – so weit reicht der Blick über den See. Er ist ja immerhin mit 1.6km der tiefste See und mit seinen Ausmassen von 670km mal 80km unfassbar riesig. Im Vergleich – der Bodensee hat gerade mal mickrige 536 km² Fläche, während der Baikalsee über 31000 km² und damit fast 60x so gross ist.

Die Wasserqualität ist so gut, dass man einfach reinspringen und seinen Durst stillen kann. Wir kaufen uns am kleinen Markt noch ein paar geräucherte Fische, essen noch ein Schaschlik und machen uns auf Wanderschaft, um den grossen Great Baikal Trail zu beschreiten. Der Trail beginnt am Ende der Strasse, die einen Hügel hinaufführt. Bis dahin lassen wir uns noch von einer netten russischen Dame per Anhalter mitnehmen. Anschliessend geht es die ersten 4km bergauf. Wir haben vorher im Internet gelesen, dass man ein supersteiles Stück umgehen kann, in dem man nicht auf dem Haupttrail bleibt, sondern an der ersten Abzweigung statt rechts besser links geht. Der Weg soll ausserdem schöner sein. So laufen wir drauf los und finden tatsächlich die Abzweigung.

Wir hätten die genaue Wegbeschreibung zwar gerne am Anfang des Trails nochmal gelesen, aber leider hat man dort bereits kein Netz mehr gehabt. Dennoch sind wir uns sicher, dass es die richtige Abzweigung ist und wandern fröhlich den wunderschönen, gut ausgetretenen Singletrail voran. Es hat vor einiger Zeit einen Waldbrand gegeben, weshalb viele Bäume angekohlt sind. Es ist teilweise ein bizarrer Anblick, da bereits wieder alles voller Grün ist zwischen all den verkohlten Baumstümpfen.

Es ist sehr warm, aber die zwei Liter Wasser sollten wohl ausreichen. Immerhin wandern wir ja nach einiger Zeit wieder nah an den See und können ja dann die Vorräte wieder auffüllen. Nach ca. 3-4h wundern wir uns, dass wir zwar immer wieder den See sehen, nur bleibt er leider die ganze Zeit über sicherlich 2-3 Kilometer westlich von uns. Irgendwie laufen wir den ganzen Weg in dieser Entfernung parallel zur Küste. Der Weg geht oben an einem Felskamm entlang, durch herrliche Birken und Nadelwälder. Lediglich die Ameisen nerven etwas, die sich immer wieder aggressiv in die Knöchel verbeissen. Aber wir laufen ja auch immerhin auf ihrem Weg, also schnell drüberhuschen und weiter geht’s. Irgendwann sind wir allerdings schon so weit gelaufen, dass es uns doch etwas sehr komisch vorkommt. Der Weg wird immer dünner und das Gras höher. Da es auch noch Zeckenzeit ist, ist uns das Durchgekämpfe auch nicht mehr so angenehm.


Plötzlich verzweigt sich der Weg und wir gehen erst den linken noch ein paar Meter einen kleinen Hügel hinauf, nur dieser Weg verliert sich schnell im Gebüsch und kann wohl nur falsch sein. Also zurück zur letzten Abzweigung und den rechten, immerhin geht der auch eher in Richtung See – also das muss ja dann der Richtige sein. Aber nach ca. 50m verliert auch dieser sich im hohen Gras. Es geht den Berg hinab und wir finden den Weg zwar pfadfindermässig hin und wieder, aber es ist irgendwie klar, dass das nicht der tolle, offizielle „Great Baikal Trail“ sein kann. Vielleicht der ex-mini-baikal-trampelpfad, aber uns schwant Böses.

Es scheint so, als ob wir uns verlaufen haben. Und zwar nicht irgendwie 10 minuten, auch keine halbe Stunde. Wir versuchen zu rekonstruieren, wo es überhaupt Wege gab, an denen wir hätten falsch laufen können. Uns fallen eigentlich nur 2 Stellen ein, und die wahrscheinlichere davon, war die am Ende des ersten Berges – als wir uns vom Hauptrail abgewandt haben. Und das war so etwa drei Stunden her. Ja, wir realisieren, dass wir anscheinend drei (!) verkackte Stunden den falschen Trail entlang gelaufen sind! Da wir es ja auch ganz besonders gemütlich angegangen haben und erst so um halb 4 am Nachmittag losgelaufen sind, wir super Trekking-Profis, ist es mittlerweile auch bereits viertel nach 8 am abend. Zwar geht die Sonne erst so um kurz nach 11 unter und dann ist es auch noch ca. 1h lang dämmerig, aber unsere Lage ist durchaus prekär. Zur Beruhigung rauchen wir erstmal eine und versuchen nicht in Panik zu verfallen. Mich beisst etwas am Bauch, ich zieh den Gurt vom Rucksack hoch und zu allem Überfluss hat sich jetzt auch noch eine ausgewachsene, rötliche Zecke in meinem Bauchspeck verbissen.


Juhu, nun ist die Lage perfekt. Wir haben uns richtig weit verlaufen, trotz Zeckencheck alle Stunde hab ich eine Zecke, unser Wasservorrat liegt noch bei knapp einem halben Liter und die Nacht bricht so langsam über uns herein. Obwohl wir nur ein bisschen Wald um uns herum haben, haben wir weder Handynetz noch GPS, also können wir nichtmal auf der Handy Offline Karte checken, wo wir eigentlich genau sind. Und das nächste Ziel ist unklar, laufen wir zurück nach Listwjanka, laufen wir zurück zur Abzweigung und kämpfen uns noch durch bis zum See oder suchen wir uns das nächste ebene Fleckchen und schlagen das Zelt auf? Aber ohne genügend Wasser ist das ja auch nicht besonders toll. Oberste Prio bekommt erstmal die Zecke. Jasmin zieht diese vorsichtig mit verschiedenen Hilfsmitteln heraus. Eigentlich wollten wir noch eine Zeckenzange mitnehmen, aber haben das dann natürlich doch irgendwie nicht geschafft – wird ja schon nicht passieren. Ok, nach einigen Minuten haben wir das Vieh dann doch irgendwie mit den Fingernägeln rausbekommen und machen uns im Eilschritt auf den langen Weg zurück. Wasser wird rationiert und nur noch in kleinen Schlucken getrunken. Primäres Ziel ist erstmal die Abzweigung, an der wir wohl falsch gelaufen sind.

Die Stimmungsretter ist der Wein, den wir uns für nen gemütlichen Abend am See mitgenommen haben. Ein paar Schluck und die Welt sieht schon wieder rosiger aus. Mit Galgenhumor laufen wir los, es geht die gleichen Berge rauf, die bekannten Hügel wieder runter und wir laufen und laufen, bis wir in der Dämmerung nach geschlagenen drei weiteren Stunden langsam wieder in der Nähe der ersten Abzweigung sind. Wir sehen einen Trail links abzweigen und sind uns sicher, nun ganz nah zu sein. Das GPS findet wieder ein Signal und zeigt, dass wir tatsächlich in der Nähe sind. Frohen Mutes geht es aber doch irgendwie zu lang den Berg runter, bis wir an eine sumpfige Stelle kommen und ich die Frage stelle, die wir an dieser Stelle ganz sicher nicht hören wollten: „Höh – waren wir hier eigentlich schon mal?“. Nach einigem Überlegen kommen wir aber erschreckenderweise beide auf die gleiche Antwort –„hmm – nööö, glaub nicht!“.

Wir Helden haben uns nun zum zweiten Mal verlaufen, diesmal sind wir wohl zu weit zurück gelaufen und hätten wohl oben am Berg doch links müssen. Yeah – Trekking Profis im Quadrat. Jasmin geht noch ein paar Meter weiter, um ganz sicher zu gehen, dass wir falsch sind und den Berg also wieder rauf müssen. Mittlerweile ist es 11, die Sonne ist bereits untergegangen und es wird so langsam düster.

Aber es war wohl unser Glück nochmal falsch gelaufen zu sein, denn 50m weiter vorn entdeckt Jasmin ein kleines Flüsslein mit kaltem, frischem und klarem Wasser. Wir freuen uns zum ersten Mal seit Stunden, denn nun haben wir wenigstens eines unserer grossen Probleme gelöst. Ich füll den Trinkbeutel auf und wir nutzen das letzte Licht, uns mit allerletzter Kraft nochmal die 20 Minuten den Berg wieder raufzumühen. Oben richtig abgebogen und schon sind wir nach geschlagenen 3.5h Zurücklaufen dann doch wieder an unserer ersten Abzweigung.

Tja, von hier aus wäre es nur noch bergab gegangen wird uns nun klar, dass wir das angeblich „supersteile“ Stück, was wir eigentlich umlaufen wollten, bereits ganz am Anfang easy hochgelaufen sind. Nunja, da das Licht nun so langsam ganz zu Ende geht, suchen wir uns in der Nähe der Abzweigung auf dem Kamm ein halbwegs ebenes Plätzchen, packen die Stirnlampen aus und bauen in windeseile das Zelt auf. Endlich – wir haben es geschafft, back on track und nun ist auch klar, wo wir morgen weiterlaufen. Ich falle in meinen kleinen Klappstuhl, Jasmin auf die bequeme Matte und wir lassen uns bei nem weiteren Schluck des Weins den leckeren Räucherfisch vom Markt schmecken. Müde und erschöpft fallen wir kurze Zeit später im nicht ganz ebenen Zelt in den Schlaf.

Am nächsten morgen frühstücken wir nach einer nicht ganz so bequemen Nacht erstmal vor unserem provisorischen Zeltplatz. Wir packen zusammen und machen uns auf, die ca. 2h bis zum See den Berg hinab. Der Trail ist wunderschön, wenn ich jetzt noch mein Downhillbike dabei hätte wäre alles perfekt. Die lange Wanderung vom Vortag steckt uns noch sichtlich in den Knochen und nach 2h erreichen wir endlich den ersehnten See. Nach einem Sprung in den supererfrischenden, eiskalten Baikalsee entschliessen wir uns, nur noch bis zum nächsten Campspot weiterzugehen. Der Weg entschädigt uns mit seinen wahnsinnigen Ausblicken über die Küstenlinie dieses gigantischen Sees. Nur bei guter Sicht erahnt man das gegenüberliegende Ufer, man bekommt immer wieder das Gefühl am Meer zu sein, wenn die „Brandung“ der Schiffswellen ans Ufer schlagen oder die Möwen mit ihrem Schreien Urlaubserinnerungen hervorlocken. Nach einem Stück steiler Uferküste erreichen wir einen Platz, der zwar kein offizieller Campspot ist, aber mit einem Holztisch und einer Feuerstelle so vorbereitet ist, dass wir entscheiden hier die Nacht zu verbringen. An der einen Seite ist ein Hügel, der uns von dem teilweise eiskalten Wind schützt, der vom Baikalsee ans Ufer geblasen wird.

Nebendran fliesst ein kleines Flüsschen in den See, den wir zu unserem Kühlschrank definieren. Das Wasser des Bachs ist mindestens so kalt, wie der See selbst und ist auch unser Frischwasserspender. Nach dem Sammeln von Feuerholz lassen wir uns nach dem Essen den Rest unseres Weins bei einem gemütlichen Lagerfeuer schmecken. Je länger wir an dem Ort sind, desto mehr wird uns die Schönheit dieses Fleckens Erde bewusst. Wir sind umgeben von saftigen grünen Wiesen, dahinter kommen auf beiden Seiten die schützenden Hügel, der Fluss säuselt leise im Hintergrund und der Ausblick über den See ist einfach nur herrlich.

Noch am abend beschliessen wir, dass wir eigentlich länger hier bleiben wollen, aber unsere Vorräte sind leider nur für einen Tag gewesen. Da ich ohnehin mal wieder laufen gehen wollte, schnappe ich mir am nächsten Morgen den leeren Rucksack und jogge die 8km auf dem wunderschönen Trail am Wasser entlang ins unser eigentliches Zieldorf Bolschie Koty, um „mal kurz“ im einzigen, superkleinen Tante-Emma-Laden das Wichtigste einzukaufen. Der Weg dorthin ist der feuchte Traum eines jeden Trailrunners und ich geniesse den Lauf mit der männermässigen Aufgabe, Essen heranzuschaffen. 3h später bin ich stolz und mit dem vollen Rucksack wieder im Camp und so verbringen wir weitere 2 Tage an unserem paradiesischen Fleck Erde.

Es ziehen am Tag gerade einmal zwei oder drei Mal Wanderer an uns vorbei und wir geniessen die himmlische Ruhe dieses einzigartigen Orts. Um einen so schönen aber dennoch alles andere als überlaufenen Ort zu finden, muss man wohl heute nach Russland fahren. Die Hauptaufgabe neben der etwas aufwändigeren Essensbeschaffung ist das Sammeln von genügend Feuerholz um es am Abend lauschig warm zu haben. Die Tage sind zwar warm, aber die Nächte relativ kühl. Meine Angelversuche bleiben leider ohne fischreichem Ergebnis, aber ohne Plan und mit nur 5m Schnur, vermutlich den falschen Haken und Ködern ist es zwar nicht verwunderlich nichts zu fangen. Aber es ist dennoch schade, denn nur wenige Meter weiter vorn im See tauchen alle paar Sekunden Fische auf, um nah über dem Wasser fliegende Insekten zu schnappen.

Der Plan vom Trekking wird also kurzerhand durch Lagerfeuerromantik und zweisamen Camping ersetzt und erst am übernächsten Tag machen wir uns auf, die gemeinsam nochmal die restlichen 8km in das verschlafene Örtchen Bolschie Koty zu wandern, um von dort aus mit dem Boot zurück nach Listwjanka zu schippern. Das Kaff ist auch eher Trostlosigkeit pur, man kann sich kaum vorstellen, wie die Leute hier leben.

Interessant ist noch der kleine Friedhof, bei dem fast jedes Grab einzeln mit einem hohen Eisengatter umzäunt und mit furchtbar grellen Kunstblumen geschmückt ist

Wir machen noch ein paar Fotos und nach der Fähre tuckern wir mit ein paar geräucherten Fischen im Gepäck im Bus wieder zurück nach Irkutsk. Von dort aus wollen wir (eigentlich) nach Arshan ins Tunka Tal..

3 Kommentare

  • ghirli

    Na das war ja jetzt mal Abenteuer pur..tapfer wie ihr es geschafft habt wieder auf den richtigen Weg zu kommen..;o) bestimmt herrlich so weit draussen in der Natur nur zu zweit; zusammen mit Bäumen,ein paar Tierchen und einem grossen See ~~~ wünsche euch weiterhin recht viel Freude an den Trails rund um den Baikalsee und danke für die spannenden Berichte darüber 🙂 liebi Grüessli :o*

  • Sarah

    Wow, soooo schöne Bilder und ein echt spannender Bericht!! Gottseidank habt ihr wieder zurückgefunden!:)

    Viel Spaß weiterhin und passt gut auf euch auf!

    Kuss und Grüße

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