Russland

km 6661-9511 auf nach Irkutsk – in der dritten Klasse

Wir sind so gegen 2 aufgebrochen, um die 7km von unserem Campingplatz früh genug bergab zur Bushaltestelle zu wandern. Für die 2850km von Krasnoyarsk nach Irkutsk haben wir uns ein dritte Klasse Ticket gelöst, um schlauerweise gegen alle Warnungen auch diese Art der Transsibirischen Eisenbahn live zu erleben. Allerdings wächst unsere Skepsis noch bevor es überhaupt losgeht- irgendwie hätten wir doch noch gerne in die zweite Klasse geupgraded, was im Hinblick auf unsere bevorstehende Mehrtageswanderung am Baikalsee doch im ausgeschlafenen Zustand evtl. mehr Sinn macht.



Am Bahnhof angekommen steigt dann erstmal dieser ca. 170kg Typ aus unserem Abteil aus – natürlich oben ohne. Jasmin springt kurz in den Zug um unsere Plätze zu sondieren. Als sie zurück kommt, sagt bereits ihr Blick aus, dass wir wohl definitiv dieses Upgrade machen wollen, wenn es denn nur irgendwie geht. Wir vermitteln unseren Wunsch unserer Zugchefin und fühlen uns während der 20 Minuten, bis sie mit einer Dolmetscherin wiederkommt einfach sowas von fehl am Platz in diesem Abteil. Die ausschließlich Einheimischen sehen wohl nur wenig Ausländer in ihrer dritten Klasse. Tja, aber leider Pech gehabt. Die Zuglady versucht zwar ihr bestes, aber die kann uns lediglich mitteilen, dass wir wohl nicht upgraden können, da wohl angeblich kein Platz ist. Wir sehen zwar leere Abteile, aber mag ja sein, dass die erst später zusteigen..


Die dritte Klasse wäre ja eigentlich gar nicht so schlimm, es gibt nur keine geschlossenen Abteile, sondern es ist ein einziger, grosser, offener Wagen. Jeweils 2 Stockbetten auf der linken Seite und rechts am Gang ein weiteres Stockbett reihen sich aneinander und das so ca. 15 mal pro Wagon. Privatsphäre ist daher nonexistent und man hört jedes Schnarchen, Furzen und Schreien der zahlreichen Kinder, riecht jede Körperausdünstung und Nahrungsaufnahme und kann natürlich auch keine Tür hinter sich zumachen. Wir versuchen nun dennoch es easy zu nehmen und es einfach mit etwas Galgenhumor zu geniessen.




Nicht nur, dass wir trotz der gefühlten 35° im Zug in dem einzigen „Abteil“ sitzen, bei dem man das Fenster nicht öffnen kann. Nein – vor und hinter uns gibt es jeweils mindestens ein mehr oder weniger schreiendes Kind, nebenan spielt nervige Musik und zur Krönung, liegt der dicke Typ vom Bahnhof nun auch noch schräg gegenüber, in direkter Blick-, Riech- und vor allem Hörweite.




Er macht auch erstmal ein Nickerchen und es schwant uns, was uns heute Nacht erwarten wird. Apnoe-Scharchen vom anderen Stern, na olé. Wir haben anscheinend das grosse Los gezogen! Ich beobachte ihn eine Viertelstunde, bis ich sein Schnarchverhalten ausreichend analysiert hab. Bis zu 14x versucht der arme Kerl in Schlaf erfolglos einzuatmen, aber aufgrund der enormen Körpermasse liegt wohl irgendwas auf seinen Atemwegen. Die Atembewegungen werden im Laufe dieser 14 sinnlosen Versuche immer energischer, und lösen sich in einem gigantischen, schweineartigem, nach Luft lechzenden Grunzen, gefolgt von 5-7 schnarchend-grunzenden Schnappatmungen. Das Hirn hat dann wohl genügend Sauerstoff um das Spiel nun wieder von vorne losgehen zu lassen. Die russische Blondine schräg gegenüber findet es aber mindestens so abstossend wie wir. Beim einem der nächsten Grunzer tauschen wir ein gegenseitig mitleidiges Lächeln aus – Völkerverständigung pur..
Nun ja, wir haben entschlossen uns ein paar Biere zu genehmigen und im leicht angeschwippsten Zustand das Beste draus zu machen. Die nächsten 18h werden sicher ein Riesenspass, ich bin froh, meinen mp3 Player aufgeladen zu haben und mich – so wie jetzt gerade – hin und wieder ins den übertrieben klimatisierten Speisewagen auf eine halbe „Kozel Svently“ zu flüchten.




12h, ein paar weitere Biere, eine Zeitzone und ein paar Stunden Schlaf später: es hat sich dann doch noch als gute Idee herausgestellt, diesen Abschnitt in der dritten Klasse zu verbringen. Nachdem sich unsere anfängliche Skepsis in Akzeptanz der Situation gewandelt hat, und auch die hereinbrechende Nacht etwas kühlere Luft brachte, hat uns die dritte Klasse doch noch angefangen zu gefallen.

Als die symphatische Russin des Nebenabteils nach einem Flaschenöffner bat und wir ihn etwas mühevoll aus dem Koffer holten, war das Eis gebrochen und wir haben die volle Breitseite der russischen Freundlichkeit abbekommen. Gerade als wir zwei uns auf ein Kippchen in Richtung Toilette verziehen wollten (streng verboten!), kamen sie und ihr Mann uns hinterher, mit der offenen Flasche Wein.




Stolz zeigt er mir die Flasche in der braunen Papiertüte, ein französischer Wein, der definitiv unseren Tetrapak Wein aus dem Supermarkt qualitativ in den Schatten stellt. Der Name ihres ebenfalls sympatischen Manns ist irgendwie unaussprechlich für uns, aber wir stellen uns vor und obwohl wir keine gemeinsame Sprachbasis haben, hängen wir mit den beiden die nächsten 2h die meiste Zeit in den 2 Quadratmetern vor der Toilette (die das Wort allerdings in unseren westlichen Normen kaum verdient). Er drückt mir sein Glas in die Hand und will es gar nicht mehr zurück nehmen, offensichtlich schmeckt ihm unser Tetrapak Wein wohl besser. Wir haben viel gelacht, oft allein schon weil man immer wieder an den Punkt kommt, dass es offensichtlich manchmal einfach nicht klappen will, das Gesagte verständlich zu machen. Irgendwann gesellt sich dann noch eine russische Omi dazu, die mit ihren 3 Brocken deutsch in hartem russichen Akzent das Wort „Grossmuerter“ aus ihrer Erinnerung holt.

Beim 20 minütigem Aufenthalt an irgendeinem Bahnhof sehen wir auch zum ersten Mal die im Reiseführer beschriebenen Marktfrauen, die ihre Essensstände direkt auf dem Bahnsteig aufbauen. Dort verkaufen sie den aussteigenden Gästen kühle Getränke und alle möglichen kulinarischen Highlights der russischen Back- und Kochkunst.


Wir nehmen ein paar Karamelrollensticks, ne Salzgurke und noch ein paar Biere, als unser neuer russischer Freund aus dem Zug uns mit Handschellenbewegungen darauf aufmerksam macht, dass offen Alkohol trinken anscheinend streng verboten ist. Wir hatten das zwar schon irgendwie geahnt, da im Zug außer uns und unserer Bekanntschaft irgendwie keiner Ähnliches auf dem Tisch stehen hatte. Eigentlich hatten wir erwartet, dass der halbe Zug sich mit Vodka in den Schlaf säuft, aber es herrschen anscheinend eher amerikanische Verhältnisse. Mit dem Bier in der braunen Papiertüte steigen wir wieder in unseren Zug und nach einem Abschlusskippchen und dem letzten Bier des Tages schlummern wir mit ein paar interessanten neuen Eindrücken ein.

Erstaunlicherweise können wir super schlafen, es ist überraschend ruhig, der dicke Schnarcher hat sich irgendwann woanders hin verzogen, die Kinder haben nicht übermässig geschrien und die Körperausdünstungen haben sich zumindest in unserem Bereich auch in Grenzen gehalten. Wir verbringen die letzten Stunden bis zur Ankunft in Irkutsk mit Schlafen, Lesen, Fotos aussortieren und dem Lesen von ein paar Hochzeitswunschzetteln. Wir haben viel Freude mit den netten Ideen und guten Wünschen (vielen Dank nochmal!). Wieder mal hat Russland unseren ersten eher schlechten Eindruck in einen zweiten, sehr herzlich-freudigen und schönen Eindruck eingetauscht.

4 Kommentare

  • Nici und Hase

    **gacker** schön geschrieben, man kann sich alles bildlich (mit Ton und Geruch) vorstellen als wär man dabei! :-* :-* :-*

  • Evi

    Dr. Hees Schnarchanalyse! Sehr gut!
    Ich lasse mich nun vom Dreiklang des Schnarchens unserer Kids in den Schlaf lullern. Ihre nicht mehr entzündeten, aber noch -seit Mitte April- geschwollenen Mandeln machen deren Schlaf ähnlich geräuschvoll. Man gewöhnt sich bekanntlich an fast alles und es wird langsam wieder besser. Hm, wie werde ich denn dann einschlafen können!? Habt Ihr die 170kg-Kontaktdaten? Liebe Grüße und gute Nacht!

  • Evi

    Btw:
    Haha, was haben denn Nici und Hase für ein Icon abbekommen!?
    Oben kommt das Gehirn raus und unten eine lange Penisschlange!?
    Two thumbs up, sagt die Euch zuzwinkernde Baumfrau. Oder so.
    :o*

  • nico

    Hehe, ja stimmt.. lustig 🙂

    oh nooo, ja dann kennst du’s ja.. aber das grunzen war schon sehr speziell. hab auch noch n handyvideo gemacht, ma sehn ob sichs lohnt.. seit april? oh jeee, das is ja mal ne lange zeit.. ich drück die daumen dass es bald ma wieder ganz gut is.. so muss packen, frühstück wartet und bus geht in 2h.. knutschers

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